Neuer Bundesgerichtsentscheid – Sozialhilfe und Freizügigkeitsguthaben

08.03.2024 – Am Montag hat das Bundesgericht einen Leitentscheid aufs Netz gestellt (8C_333/2023 vom 1. Februar 2024; zur BGE-Publikation vorgesehen). Er handelt von der Schnittstelle zwischen beruflicher Vorsorge, Sozialhilferecht, Ergänzungsleistungen und Schuldbetreibung.

Unsere höchsten Richter haben erkannt, dass eine 60-jährige Person nicht dazu gezwungen werden darf, ihr Freizügigkeitsguthaben zu beziehen, um die Sozialhilfe temporär zu entlasten (bzw. um bereits bezogene Sozialhilfeleistungen zurückzuerstatten).

Anders könnte es sich allenfalls verhalten, wenn der Sozialhilfebezug dadurch komplett vermieden werden könnte (oder hätte vermieden werden können). Bei Freizügigkeitsguthaben weit über CHF 100’000 (was in diesem Fall nicht gegeben war) könnte der Bezug dieses Geldes ab 60 zumutbar sein. Warum? Ab 63 ist der frühestmögliche AHV-Rentenbezug möglich und somit bestünde auch ein Ergänzungsleistungsanspruch. Beträge über der Schwelle von CHF 100’000 könnten so zuvor „verbraucht“ werden (statt dem Bezug von Sozialhilfe) bis das Vermögen unter CHF 100’000.- fällt und damit ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen entstehen kann (Art. 9a Abs. 1 lit. a ELG).

Zu erinnern ist schliesslich an BGE 148 V 114, wonach freiwillig bezogenes Freizügigkeitsguthaben vor dem Zugriff durch die Sozialhilfebehörde nicht geschützt ist. Fordert diese bereits erbrachte Sozialhilfeleistungen zurück, so ist das bezogene Freigügigkeitsguthaben allerdings nur beschränkt pfändbar (Art. 93 SchKG).

Weshalb wollen die Sozialhilfebehörden denn überhaupt auf das Vorsorgevermögen der Bezüger/innen zugreifen, wenn diese später dafür rascher oder mehr Ergänzungsleistungen beziehen müssen? Ein ungenannter Grund dürfte u.a. darin liegen, dass die Kantone und Gemeinden für die Sozialhilfeleistungen alleine aufkommen müssen, während die jährlichen Ergänzungsleistungen zu 5/8 vom Bund und nur zu 3/8 von den Kantonen finanziert werden (Art. 13 Abs. 1 ELG). Dies ist ein Beispiel mehr dafür, wie die Finanzierung ins Leistungsrecht hineinwirken kann.