Für Hausfrauen wird es ungemütlich

25.4.2022 – Der folgende Artikel wurde in der „Sonntagszeitung“ am gestrigen Sonntag, 24. April veröffentlicht (Bettina Weber):

Wegweisendes Urteil Mütter haben nach einer Scheidung nicht mehr automatisch das Recht auf persönlichen Unterhalt. Das Bundesgericht verschärft seine Praxis erneut – und definiert die Ehe neu. 

Über 10’000 Franken Unterhalt sollte er jeden Monat an seine Ex-Frau bezahlen. Plus 4800 Franken an Wohnkosten sowie, kurioses Detail, 350 Franken für die Hausratversicherung. Und das die nächsten sechs Jahre lang, bis die gemeinsame Tochter 2027 die Oberstufe abgeschlossen hätte. 

Diese Regelung fand der Mann nicht in Ordnung; er war der Meinung, seine gut ausgebildete Ex-Frau habe selbst für sich aufzukommen. Deshalb reichte er gegen das Scheidungsurteil des Zürcher Obergerichts Beschwerde beim Bundesgericht ein. Und dieses gab ihm nun in einem Urteil vom 25. März recht. 

Lebensstandard fortsetzen zu können, gilt nicht mehr

Der Entscheid mit dem üblich trockenen Kürzel 5A568/2021 hat es in sich. «Das Vorhandensein gemeinsamer Kinder allein», so das oberste Schweizer Gericht, reiche nicht mehr aus, damit dem betreuenden Elternteil – meist der Mutter – «gebührender Unterhalt» zustehe. 

«Gebührender Unterhalt» bedeutet die Finanzierung des gewohnten Lebensstandards nach der Scheidung – in den allermeisten Fällen bezahlt der Mann für seine Ex-Frau so viel Geld, dass sie sich trotz veränderter Beziehungssituation nicht oder kaum einschränken muss. Das soll künftig nicht mehr so sein. 

Der Entscheid habe Signalwirkung, sagt Manuel Duss, Präsident des Vereins der Fachanwältinnen und Fachanwälte SAV für Familienrecht und Rechtsanwalt in Zürich, denn bisher wurde ein Unterhaltsanspruch bei einem gemeinsamen Kind «regelmässig bejaht», wie es im Urteil heisst. 

Es ist nicht das erste Mal, dass das Bundesgericht im Familienrecht einen Pflock einschlägt, im Gegenteil. Der jüngste Entscheid reiht sich ein in eine Serie von Urteilen aus Lausanne, die alle etwas gemeinsam haben: Sie setzen konsequent die Gleichberechtigung um, indem sie jahrzehntelang geltende Gewissheiten auf den Kopf stellen und Regeln kippen, die schweizweit bei Tausenden Scheidungen Anwendung fanden. 

Die Entscheide des Bundesgerichts haben sehr konkrete Auswirkungen: Männer werden durch die neue Rechtsprechung eher entlastet, Frauen geraten zunehmend unter Druck, weil ihr Anspruch auf nacheheliche Finanzierung des Lebensunterhalts – von bösen Zungen «Durchfüttern» genannt – sukzessive eingeschränkt wurde. Mit dem neuen Urteil von Ende März setzen die fünf Richter der zweiten Zivilkammer – alles Männer, alles Bürgerliche – jetzt eine weitere Wegmarke. 

Das Familienrecht war immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse und zeigte stets das herrschende Rollenverständnis auf: Noch bis 1988 galt der Ehemann per Gesetz als Familienoberhaupt, und die Ehefrau konnte ohne seine Erlaubnis weder ein Bankkonto eröffnen noch einer Arbeitstätigkeit nachgehen. 

Nur 10 Prozent der Paare machen halbe-halbe 

Die Rollenverteilung von Paaren hat sich seither geändert – und damit auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Mitunter hat man gar den Eindruck, das oberste Gericht halte die Schweizerinnen und Schweizer für moderner als die Politik, deren Mühlen in Sachen Gleichberechtigung oft langsam mahlen. 

Die Lausanner Richter gehen so konsequent vom Sinn des Wortes Gleichberechtigung aus, dass das Gericht in einem seiner jüngsten Entscheide sinngemäss festhielt, für Mütter gelte derselbe Massstab wie für Väter, weshalb sie «zur vollen Ausschöpfung der Erwerbskraft angehalten» seien. 

Das klingt fortschrittlich und einleuchtend, bloss: Gemäss Bundesamt für Statistik teilen sich in der Schweiz nicht einmal 10 Prozent der Paare mit Kindern Haushalt und Job hälftig. Es dominiert das Modell: Er arbeitet Vollzeit, sie Teilzeit.

Die Erwerbsquote der Schweizer Frauen beträgt zwar 80 Prozent, aber die Zahl wird angesichts der oft tiefen Pensen relativiert. Und sie täuscht auch über die Tatsache hinweg, dass es nach wie vor in den allermeisten Fällen die Frauen sind, die der Familie zuliebe beruflich zurückstecken – und die Männer gleichzeitig die finanzielle Verantwortung für die Familie meist allein tragen. 

Erst kam das sogenannte «Schulstufenmodell» . . .

So gesehen hat sich am Ernährer-Modell doch nicht so viel verändert. Just diese traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Ehe betrachtet das oberste Schweizer Gericht nun aber als nicht mehr zeitgemäss. Nicolas von Werdt, einer der zuständigen Richter in der zweiten Zivilkammer am Bundesgericht, sagte letztes Jahr in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Wer mit der Ehe eine Lebensversicherung will, liegt falsch.» 

Noch bis ins Jahr 2018 allerdings wurde bei der Festlegung des Unterhalts auf die konservative Rollenverteilung – das Bundesgericht spricht von «Hausgattenehe» – abgestützt. Die sogenannte 10/16-Regel besagte, dass von einer Mutter eine Berufstätigkeit erst dann verlangt werden könne, wenn das jüngste Kind zehn Jahre alt sei und das auch nur in einem Pensum von maximal 50 Prozent. Erst wenn dieses jüngste Kind 16 war, galt eine Vollzeitstelle als zumutbar. 

Diese Annahme entspreche «nicht mehr der gesellschaftlichen Realität», befand das Bundesgericht dann aber vor vier Jahren und setzte fortan auf das sogenannte Schulstufenmodell: Bei Eintritt des jüngsten Kindes in den Kindergarten wird für den betreuenden Elternteil – meist die Mütter – ein Teilzeitjob in einem Pensum von 50 Prozent zumutbar, ab Oberstufe 80 Prozent, und hat das Kind die obligatorische Schulzeit hinter sich, ist ein Vollzeitjob für die Mutter zumutbar.

. . . dann wurde die 45er-Regel aufgehoben

Zwei Jahre später wurde Lausanne noch grundsätzlicher und weichte jenen Begriff auf, der bei einer Scheidung stets entscheidend gewesen war: die «Lebensprägung». Verkürzt gesagt, galt eine Ehe dann als lebensprägend, wenn ein Paar die traditionelle Rollenaufteilung gelebt hatte. Oder, wie es das Bundesgericht im aktuellen Urteil schrieb: «Wenn ein Ehegatte aufgrund eines gemeinsamen Lebensplanes seine ökonomische Selbstständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat». 

Aus dieser «Lebensprägung» folgte der Anspruch der Frau, von ihrem Ex-Mann nach der Scheidung ein Leben im gewohnten Standard weiterführen zu können. Diese Gewissheit gilt seit damals nicht mehr. 

Im Februar 2021 wurde die Schraube ein weiteres Mal angezogen: Das Bundesgericht hob die 45er-Regel auf. Sie besagte, dass einer Frau, die älter ist als 45 und sich während der Ehe ausschliesslich um Haushalt und Familie kümmerte, nach der Scheidung nicht mehr zugemutet werden kann, einen Job anzunehmen und sich das eigene Auskommen zu verdienen.

Nun gilt das «Primat der Eigenverantwortung»

Heute gilt, was das Bundesgericht im neuen Urteil festhält: Ab dem Moment, in dem sich eine Trennung abzeichne, sei jeder und jede für sich verantwortlich und stehe damit in der Pflicht, selbst für seinen oder ihren Unterhalt zu sorgen. Auf Juristendeutsch: Es gilt das «Primat der Eigenverantwortung». 

Die Lausanner Richter anerkennen zwar, dass die «wirtschaftliche Wiedereingliederung der Ehefrau» durch die verbleibenden Betreuungspflichten erschwert werden könne. Trotzdem reiche das nicht aus, um Anspruch auf Unterhalt zu haben.